Dienstag, 17. Mai 2011

Michela Murgia - Accabadora

Zufällig lag das Buch auf dem Sofa. Ein Ostergeschenk für meine Frau von ihrer Mutter. Ich hatte einmal eine begeisterte Besprechung von dem Buch im Radio gehört. Jetzt lag es da. Also nahm ich es in die Hand, lobte es und schlug die erste Seite auf. Die Lektüre hat meine Erwartungen nicht enttäuscht.

Accabadora, der erste Roman der Sardin Michela Murgia, erzählt von einer sagenumwobenen Frauenfigur des traditionellen Sardinien, die Sterbenden zum Tod und auch Kindern zur Geburt verhilft.Der Autorin gelingt es diese Frauenfigur in ihrer kurzen Erzählung Leben ein zu hauchen. Sie verknüpft das offene Geheimnis der alten kinderlosen Frau Bonaria Urai mit dem Schicksal des Mädchens Maria Listru. Die Bonaria nimmt das Kind bei sich auf als "fill'e anima", als "Herzenskind" - eine weitere Tradition des sardischen Volkes und eine Form der Adoption unter Einverständnis der beteiligten Familien - ganz ohne behördliche Formalitäten, die allein auf Zuneigung basiert. Das Kind wird im Hause der Bonaria erzogen und erhält für das Dorf Soreni eine überdurchschnittliche Schulerziehung. Aber sie erfährt nicht welches Ziel die seltenen aber wiederkehrenden, meist im Schutz der Nacht erfolgenden Gänge der Bonaria haben. Wir lesen wie das Kind erwachsen wird. Wir lesen wie Maria mit dem Wissen um das Geheimnis der Bonaria ringt und schließlich daran reift. Und der Leser wird mit der Frage konfrontiert, ob das Sterben, ähnlich wie die Geburt, einer helfenden Hand bedarf, eines Menschen, der die letzte Nabelschnur trennt, die den Sterbenden erlöst. Die Accabadora sagt an einer Stelle über sich: "Ich bin die letzte Mutter gewesen, die einige gesehen haben."

Die Accabadora handelt nicht ohne Ethik. Ihr Handeln setzt den Wunsch der Familie des sterbenden und und eine eingehende Prüfung der Accabadora voraus. Sie ist ihrem Gewissen und der Tradition Rechenschaft schuldig. Ihr Gegenspieler wäre der blasse Pfaffe des Ortes, wenn er nicht wüsste, dass er die Tradition der Sarden nicht durchbrechen kann. Das Aufeinandertreffen der beiden, der selbstbewusste Bonaria und dem demütigen Priester,  wird von einer besonderen unterschwelligen Spannung getragen.

In einer schönen Sprache beschreibt Michela Murgia sardische Sitten. Sie wirft dabei aktuelle Fragestellungen zu dem Themenkomplex der Sterbehilfe auf. Sie leuchtet aus in welchem Verhältnis die bäuerlichen Traditionen mit jenen der Kirche standen und entwirft das Panorama einer dörflichen Gesellschaft. All das ist mir großem Gewinn lesenswert.

Aus dem italienischen von Julika Brandestini, Verlag Klaus Wagenbach Berlin.


Donnerstag, 5. Mai 2011

Fiorello La Guardia - oder was man von Roth lernen kann


Ich eröffne den Blog nach Ostern (Das war das Vorhaben! Tatsächlich ist bin Laden zwischenzeitlich getötet worden, wodurch ich mich genötigt sah mich anderen Fragen zu zu wenden.) mit einem kurzen Filmchen, der Fiorello La Guardia, den bedeutenden Bürgermeister der Stadt New York zeigt, wie er, an die Kinder der Stadt gewandt, im Radio einen Cartoon aus der Zeitung vorliest.
Das seine Mutter Triestinerin war verbindet, ist aber nicht der Grund gewesen dieses Zeitdokument zu heben. Wenn man Namen auf Straßenschildern liest oder Flughäfen so benannt werden, dass man sich wundern mag, an wen oder was sie erinnern sollen, dann ist der Name schnell vergessen, und fällt vom Rande der Wahrnehmung bald hinab: verdrängt von neuen Erscheinungen am rasch wechselnden Horizont des Augenscheins. Wenn man aber in einem guten Buch auf solche Namen stößt, dann brennen sie sich ein und wecken ein weiterführendes Interesse. So geschehen während meiner Osterlektüre von Philip Roths "Verschwörung gegen Amerika".
"La Guardia steht neben dem Sarg und spricht zu den Würdenträgern mit der gleichen hohen, nervösen Stimme, mit der er bekanntlich während eines Streiks der New Yorker Zeitungen allwöchentlich über den städtischen Rundfunksender den Kindern der Stadt die Sonntagscomics nacherzählte; mit der Geduld eines Onkels, wie man sich keinen besseren wünschen konnte, berichtet er über die Abenteuer von Dick Tracy und Little Orphan Annie und all die anderen Comic-Helden Bild für Bild und Sprechblase für Sprechblase."


Das Buch, welches eine nur kleine aber bedeutende Realitätsverschiebung vornimmt und das Fliegerass Charles Lindbergh zum amerikanischen Faschisten und 33. Präsidenten der Vereinigten Staaten macht, der Roosevelt  bei der Wahl 1940 ablöst und dann, nach einer verkürzten Amtszeit von diesem 1942 wieder abgelöst wird - dieses Buch hat mich in seinen Bann gezogen, nicht nur weil es das Phänomen von Bedrohung und Angst von Minderheiten in einer Gesellschaft, die sich zu einer feindlichen entwickelt, sehr plausibel darstellt. Es ist wie jedes Buch von Roth eines über Newark und dieses Mal eines, welches seine Kindheit beschreiben könnte, denn überall zwischen der Fiktion lauert das Leben wie es ist und also auch wie es hätte sein können, im Newark der 1940er Jahre.

Es entspricht in gewisser Weise dem Roman "Nemesis", den ich kurz zuvor gelesen hatte, bevor ich ihn Pflichtschuldig meinem Vater schenkte - immerhin war es sein Ostergeschenk, das ich da schnell durchgelesen hatte, weil ich nicht warten konnte es mir selbst zu erstehen und ich - bei aller Liebe für meinen Buchhändler - auch an das eigene Portmonee denken muss. Der Fluss der Erzählung von Nemesis verschmilzt mit dem breiten Erfahrungsstrom Newarks, aus dem Roth seine Charaktere und Geschichten schöpft. Und hier wie Im Verschwörungsroman arbeitet er an einem großen Thema, welches sich durch den Duktus des großen Erzählers als Erfahrung im Leser einbrennt. Wenn der Verschwörungsroman im wesentlichen Angst und Bedrohung behandelt, nimmt sich Nemesis die Moral vor an der Bucky, der Held der Geschichte, schließlich scheitert.

Das eine große Thema ist  Konzept und wird nicht aus den Augen verloren, während sich beim Lesen allerdings ein unglaublich breites Panorama begleitender Charaktere, Erzählungen und Aspekte des Lebens und der Welt eröffnen, die den Genuss der Lektüre noch steigern.

Bei Nemesis ist Roth zudem eine erzählerischer Kniff gelungen, der nicht wie die Realitätsverschiebung, sondern auf ganz andere überraschende Art daher kommt und der es auf wundervolle Weise ermöglicht die dem Roman zugrunde liegende konzeptuelle Fragestellung differenziert zu behandeln. Ein Roman wie ein Zwiegespräch.

Noch etwas ist mir im Rückblick auf meine Roth-Lektüren aufgefallen: Ich habe Roth immer unter Männerliteratur verbucht. Ich habe ihm damit sicherlich unrecht getan. Die letzten Leseerlebnisse, aber auch die Altherrenromane "Sabbath Theater",  "Der menschliche Makel" und "Jedermann"  stellen dem hadernden und meist auch scheiternden männlichen Charakteren eine starke, zärtlich gezeichnete Frauenfigur zur Seite.


Mittwoch, 4. Mai 2011

Osama ist Tod

Ich bekenne (angesichts der Debatte um unpassende oder angemessene Kommentare), dass ich im Moment als ich die Nachricht von bin Ladens Tod, sportlich den gebeugten Arm und die Hand fest zur Faust geschlossen drei Mal hin und her fahren ließ und so etwas wie "Ja - die - Sau!" taktgleich zur Bewegung des Armes ausgestoßen habe. Ich beichte, dass mein Sohn anwesend war. Ich habe also (in der häuslichen Öffentlichkeit) die Beherrschung verloren. Das ist auch ein Aspekt der Geschichte, dass dieses Ereignis von 9/11 meine Generation wohl derart prägt, dass wir in der Lage sind die Fassung zu verlieren.

Heute versuche ich zu verstehen, welche Optionen es zu dem Einsatz gegeben hätte. Eine Festsetzung wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen (wenn der Einsatz das auch zugelassen hätte). Es ist zu hoffen, dass Material in bin Ladens Residenz sicher gestellt werden konnte, das jetzt schnelle Zugriffe auf weitere Verrückte ermöglicht. Ich kann nicht umhin das ganze als Polizeiaktion zu verstehen und zudem eine Notwendige.


Obwohl ich im Ganzen der Aktion und ihren Ausgangs im ersten Affekt und in der Nachschau positiv gegenüber stehe, empfand ich die Szenen aus Amerika, mit Fahnen schwenkenden Menschen und skandierenden Mengen befremdlich. Diese Bilder verbinde ich mit Sportevents. Aber vielleicht ist das auch nur der kollektive Ausdruck dessen, was mir an dem Morgen unter die Haut gegangen ist als ganz spontan auf die Nachricht reagierte?